Wenn narzisstische Eltern Geschwister gegeneinander aufbringen
Eine Familie sollte ein sicherer Hafen sein – ein Ort, an dem man sich geborgen, gesehen und geliebt fühlt. Doch wenn Eltern narzisstische Züge tragen, wird aus dem schützenden Heim schnell ein Ort subtiler Manipulation, emotionaler Kälte und stillem Machtmissbrauch.
Besonders tragisch ist es, wenn narzisstische Eltern ihre Kinder – insbesondere Geschwister – gegeneinander ausspielen. Die Auswirkungen dieser Dynamik reichen oft bis tief ins Erwachsenenalter.
Die unsichtbare Bühne: Familie als Spielfeld narzisstischer Kontrolle
Narzisstische Eltern brauchen Kontrolle, Bestätigung und Bewunderung.
Für sie sind Kinder nicht in erster Linie eigenständige Wesen mit Gefühlen und Bedürfnissen, sondern oft Projektionsflächen oder Werkzeuge.
Um ihre Rolle als „unfehlbare Eltern“ aufrechtzuerhalten, bedienen sie sich manipulativer Taktiken – und eine davon ist, Geschwister gezielt gegeneinander auszuspielen.
Dabei entsteht keine normale Rivalität, wie sie unter Geschwistern vorkommt, sondern ein emotionaler Kampfplatz, in dem sich die Kinder um die Aufmerksamkeit, Zuneigung und Anerkennung des narzisstischen Elternteils bemühen – meist auf ungesunde Weise.
Das goldene Kind und der Sündenbock
Eine der typischen Strategien narzisstischer Eltern besteht darin, ihre Kinder in Rollen zu pressen.
Oft wird ein Kind zum sogenannten goldenen Kind ernannt – es darf keine Fehler machen, wird gelobt, idealisiert und als Erweiterung des narzisstischen Elternteils betrachtet.
Das andere Kind wird dagegen häufig zum Sündenbock: Es bekommt die Schuld für Missstände, wird kritisiert, klein gehalten und systematisch abgewertet.
Diese Rollen sind nicht nur ungerecht, sondern psychologisch höchst gefährlich. Denn sie vergiften das Verhältnis zwischen den Geschwistern.
Das goldene Kind lebt unter immensem Druck, immer perfekt sein zu müssen, während das „schwarze Schaf“ oft mit massiven Selbstzweifeln und geringem Selbstwert aufwächst.
Verdeckte Manipulation: Liebe als Belohnung
In einer gesunden Familie ist Liebe bedingungslos.
Doch in einem narzisstisch geprägten Familiensystem wird Liebe zur Währung – sie wird gegeben und entzogen, je nachdem, wie gut das Kind die Erwartungen erfüllt.
Ein Kind, das widerspricht oder Gefühle zeigt, die unbequem sind, erlebt oft Liebesentzug, Ignoranz oder Abwertung.
Geschwister lernen in diesem toxischen System, dass sie um Zuneigung kämpfen müssen – und dass sie in Konkurrenz zueinander stehen.
Das schafft Misstrauen, Neid und sogar Abscheu – nicht gegen den narzisstischen Elternteil, sondern gegeneinander. Die eigentliche Quelle des Unheils bleibt dabei im Verborgenen.
„Warum liebt Mama/Papa dich mehr als mich?“
Kinder versuchen, Sinn in dem zu finden, was sie erleben.
In narzisstisch strukturierten Familien bleibt ihnen jedoch oft nichts anderes übrig, als sich selbst oder dem Geschwisterkind die Schuld zu geben:
„Ich bin nicht gut genug.“
„Mein Bruder ist immer besser.“
„Meine Schwester wird bevorzugt.“
Diese Gedanken führen zu innerem Schmerz, Rivalität und langfristiger Entfremdung. Statt sich als Team zu sehen, erleben sich Geschwister als Gegner – und verlieren dabei den Zugang zu einer der wichtigsten emotionalen Ressourcen im Leben: der Geschwisterliebe.
Die Rolle des narzisstischen Elternteils
Ein narzisstischer Elternteil genießt es oft, im Zentrum der familiären Dynamik zu stehen.
Er oder sie fördert Missverständnisse, mischt sich ein, wenn sich Geschwister zu nahekommen, und sät gezielt Zwietracht, um Kontrolle zu behalten. Häufig sind Aussagen zu hören wie:
„Warum kannst du nicht so sein wie dein Bruder?“
„Deine Schwester schafft das auch ohne zu jammern.“
„Ich wünschte, ich hätte nur dich bekommen.“
Solche Sätze brennen sich ein – in die Erinnerung und in das Selbstbild. Sie verstärken die Trennung, zerstören Vertrauen und hinterlassen tiefe emotionale Narben.
Wenn Kinder zu Verbündeten gemacht werden
Ein weiteres perfides Muster narzisstischer Eltern ist es, ein Kind zum „Vertrauten“ zu machen.
Das Kind bekommt das Gefühl, eine besondere Rolle zu spielen, wird mit Informationen über Geschwister gefüttert und zur moralischen Instanz erhoben. Was wie Nähe wirkt, ist in Wahrheit emotionale Ausbeutung.
Das „Vertrauten-Kind“ wird manipuliert, Schuldgefühle gegenüber den Geschwistern zu entwickeln – oder sich über sie zu stellen. Auch hier entsteht Distanz statt Verbindung.
Langzeitfolgen für das Selbstbild und die Geschwisterbeziehung
Viele Menschen, die in einem solchen Familiensystem aufgewachsen sind, berichten im Erwachsenenalter von:
- gestörtem Selbstwertgefühl
- übermäßiger Selbstkritik oder Grandiosität
- Beziehungsproblemen und Bindungsangst
- dauerhaftem Gefühl, nicht genug zu sein
- Kontaktabbruch zu Geschwistern
- innerer Leere oder Schuldgefühlen
Die Geschwisterbeziehung bleibt oft von Misstrauen und Schmerz geprägt. Selbst Jahre nach dem Auszug können alte Dynamiken unbewusst wirken und Nähe verhindern.
Der Weg zur Klarheit: Erkennen, was wirklich war
Heilung beginnt mit dem Erkennen. Viele Betroffene brauchen Jahre, um zu verstehen, dass nicht das Geschwisterkind der „Feind“ war – sondern dass sie beide Opfer eines manipulativen Systems wurden.
Die narzisstische Elternfigur hat Rollen verteilt, gezielt verunsichert und das Vertrauen zwischen den Kindern zerstört.
Wenn dieses Muster einmal durchschaut wird, öffnet sich ein Raum für Mitgefühl – für sich selbst und für das Geschwisterkind.
Wie Geschwister sich wieder annähern können
Ein echter Neuanfang zwischen Geschwistern ist möglich – auch nach Jahren. Er beginnt mit Ehrlichkeit, Mut und dem Willen, die Vergangenheit offen zu betrachten. Hilfreich kann sein:
- ein offenes Gespräch ohne Schuldzuweisungen
- das Teilen eigener Kindheitserfahrungen
- das Eingeständnis, manipuliert worden zu sein
- professionelle Hilfe durch Familienberatung oder Therapie
Wichtig ist: Der Weg zurück ist ein Prozess. Vertrauen muss langsam wachsen. Aber wenn beide Seiten erkennen, dass sie einst aufeinander hätten bauen können – wenn nicht jemand gezielt dazwischengefunkt hätte –, entsteht ein neues Fundament.
Was man als Erwachsener für sich selbst tun kann
Auch wenn eine Annäherung mit dem Geschwisterkind (noch) nicht möglich ist, lohnt sich der Blick nach innen.
Wer aus einer Familie kommt, in der Narzissmus eine Rolle spielte, darf sich Folgendes bewusst machen:
- Du bist nicht schuld an der Rollenverteilung.
- Deine Gefühle sind berechtigt.
- Du darfst den Kontakt begrenzen, wenn es dir nicht gut tut.
- Du darfst loslassen – Schuld, Scham, Angst.
- Du hast ein Recht auf Heilung, auch ohne familiäre Anerkennung.
Die Arbeit an dir selbst – ob durch Therapie, Familienaufstellungen oder den Austausch mit anderen Betroffenen – kann ein Wendepunkt sein. Denn deine Vergangenheit mag dich geprägt haben, aber sie muss nicht bestimmen, wie du heute fühlst, denkst und lebst.
Fazit: Geschwister sind keine Gegner
Narzisstische Eltern erzeugen oft ein Klima, in dem Kinder sich gegenseitig als Bedrohung erleben. Doch in Wahrheit sind sie Leidensgenossen eines Systems, das Liebe als Belohnung missbraucht hat.
Die gute Nachricht: Was durch Manipulation zerstört wurde, kann durch Bewusstsein, Mitgefühl und Mut wieder aufgebaut werden. Vielleicht nicht so, wie es nie gewesen ist – aber auf neue, heilsame Weise.