Wenn die Kinder gehen – Schmerz und Stolz zugleich
Es beginnt meist ganz harmlos. Mit einem beiläufigen Satz: „Ich hab da eine Wohnung gefunden.“ Oder: „Ich denke, es ist Zeit, auszuziehen.“ Und plötzlich steht er da – dieser Moment, von dem man immer wusste, dass er irgendwann kommt. Der Moment, in dem das eigene Kind geht. Nicht wütend, nicht beleidigt, sondern einfach, weil das Leben ruft.
Und während das Kind sich mit Neugier und Aufregung aufmacht in ein neues Kapitel, bleibt für viele Eltern etwas zurück: eine Stille, die laut in der Seele hallt. Ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist. Eine Mischung aus Wehmut, Stolz, Unsicherheit – und Liebe.
Der stille Abschied
Niemand bereitet Eltern wirklich darauf vor, was es bedeutet, das eigene Kind gehen zu lassen. Die ersten Jahre dreht sich alles um Nähe: ums Tragen, Füttern, Trösten, Schützen.
Man ist gewohnt, immer da zu sein. Zu helfen, zu begleiten, zu lenken. Und dann – kommt der Moment, in dem das Kind die Tür hinter sich schließt und sagt: „Ich ruf dich später an.“
Es ist kein endgültiger Abschied, und doch verändert sich alles. Die Umarmung am Abend fehlt. Der vertraute Klang von Schritten im Flur.
Das spontane Gespräch in der Küche. All die kleinen Routinen, die das Familienleben ausgemacht haben – sie brechen weg. Zurück bleibt ein leerer Platz am Tisch. Und ein voller Platz im Herzen.
Das Herz muss sich weiten
Wenn Kinder gehen, ist das Herz der Eltern gezwungen, sich zu weiten.
Es muss sich dehnen zwischen zwei Extremen: dem Stolz auf das, was das Kind geworden ist – und dem Schmerz über das, was nicht mehr da ist.
Viele Mütter und Väter berichten von einer Leere, die sich zunächst kaum füllen lässt. Und von Schuldgefühlen, weil sie traurig sind – obwohl sie ja eigentlich froh sein sollten. Doch beides darf nebeneinander bestehen.
Man darf stolz sein – und traurig. Man darf sich freuen – und vermissen. Das Leben ist nicht entweder-oder. Es ist beides. Gleichzeitig.
Die unsichtbare Arbeit des Elternseins
Elternschaft bedeutet unzählige kleine Handlungen, die oft niemand sieht:
Windeln wechseln, Tränen trocknen, Hausaufgaben erklären, unruhige Nächte durchstehen, zuhören, wenn das Herz bricht, loslachen, wenn die Freude überquillt.
All diese Mühe – über Jahre, oft Jahrzehnte – ist getragen von einer tiefen Liebe. Wenn das Kind dann geht, bleibt nicht nur das Haus leerer. Auch die Aufgabe, die so lange den Alltag bestimmt hat, verschwindet. Und mit ihr oft ein Teil des Selbstbildes.
Wer bin ich, wenn ich nicht mehr täglich gebraucht werde? Wenn niemand mehr ruft: „Mama, wo ist mein…?“ oder „Papa, kannst du mal…?“
Raum für Neues – auch in dir
Diese Phase ist schmerzhaft. Aber sie ist auch eine Chance. Denn in dem Raum, der durch das Gehen der Kinder entsteht, kann etwas Neues wachsen: Zeit für dich selbst.
Für deine Wünsche, deine Träume, deine Interessen. Vielleicht war lange kein Platz für eigene Hobbys, für Ruhe, für Selbstfürsorge. Jetzt darfst du diesen Platz einnehmen – nicht als Ersatz, sondern als Geschenk an dich selbst.
Viele Eltern entdecken in dieser Zeit wieder, wer sie jenseits der Elternrolle sind. Sie schreiben, reisen, tanzen, lernen etwas Neues. Sie entdecken alte Freundschaften wieder oder bauen neue Beziehungen auf – zu sich selbst, zum Partner, zum Leben.
Loslassen mit Vertrauen
Loslassen ist eines der schwierigsten Kapitel in der Elternrolle. Es bedeutet, dem eigenen Kind zu vertrauen.
Ihm zuzutrauen, dass es seinen Weg findet – auch wenn man es nicht mehr jeden Tag lenken kann. Auch wenn Fehler passieren. Auch wenn man selbst anders handeln würde.
Doch genau dieses Vertrauen ist das größte Geschenk, das man seinem Kind machen kann: *Ich glaube an dich. Auch ohne mich an deiner Seite. Ich bin da – aber du darfst gehen.*
Und wer gelernt hat, dass Zuhause ein sicherer Ort war, wird immer wieder zurückfinden. Nicht mehr, um versorgt zu werden – sondern um sich zu zeigen, zu verbinden, zu erinnern.
Rituale des Übergangs
Nicht jeder Abschied muss still und schwer sein. Man kann ihn gestalten – wie ein Übergangsritual. Vielleicht schreibt man einen Brief an das Kind.
Vielleicht kocht man gemeinsam ein letztes Familienessen vor dem Umzug. Vielleicht übergibt man symbolisch einen Schlüssel – zum eigenen Leben.
Solche kleinen Gesten machen den Abschied nicht leichter – aber bewusster. Sie zeigen: *Wir verabschieden nicht die Beziehung – sondern eine Phase. Und machen Platz für eine neue.*
Was Kinder wirklich mitnehmen
Wenn Kinder gehen, nehmen sie weit mehr mit als Kleidung, Bücher oder Zahnbürste. Sie nehmen das mit, was Eltern ihnen über Jahre gegeben haben – auch dann, wenn sie es nicht laut benennen:
- das Gefühl, geliebt zu sein
- die Erfahrung von Sicherheit
- innere Stärke und Resilienz
- Werte, Haltungen, Mitgefühl
- und die innere Stimme, die sagt: Du schaffst das.
Diese unsichtbaren Geschenke sind oft viel bedeutender als alles Materielle. Sie tragen ein Leben lang.
Und wenn der Kontakt weniger wird?
Viele Eltern erschrecken, wenn das Kind sich plötzlich seltener meldet. Wenn auf Nachrichten keine Antwort kommt.
Wenn es eigene Wege geht, die man nicht versteht. Auch das ist Teil des Abnabelungsprozesses.
Wichtig ist: Nicht in Vorwürfe verfallen. Nicht klammern. Sondern in der eigenen Liebe bleiben. Vertrauen, dass die Verbindung tiefer ist als der tägliche Kontakt. Und dass sich Nähe immer wieder neu gestalten kann.
Die neue Rolle der Eltern
Eltern bleiben Eltern – ein Leben lang. Aber die Rolle verändert sich. Aus dem aktiven Begleiten wird ein stilles Unterstützen.
Aus ständiger Fürsorge wird gelegentliche Hilfe. Aus täglicher Nähe wird eine liebevolle Distanz.
Diese neue Rolle ist nicht weniger wichtig – nur anders. Sie erfordert weniger Handeln, mehr Vertrauen. Weniger Kontrolle, mehr Loslassen. Und sie erlaubt, dass die Beziehung auf Augenhöhe wächst.
Wenn Stille zu Frieden wird
Am Anfang fühlt sich die Stille nach dem Auszug schwer an. Wie ein Vakuum. Doch mit der Zeit wird sie zu etwas anderem: zu Frieden.
Zu einem Raum, in dem Erinnerungen leben dürfen. In dem man sich dankbar zurücklehnt und denkt: Es war gut. Ich habe mein Kind begleitet – und jetzt darf es gehen.
Manche Eltern erleben sogar, dass die Beziehung zum Kind nach dem Auszug intensiver wird. Ehrlicher. Reifer. Weil beide Seiten sich entwickeln dürfen. Weil keine Abhängigkeit mehr da ist – sondern freiwillige Nähe.
Fazit: Loslassen – und wachsen
Wenn die Kinder gehen, lassen sie nicht nur das Zuhause hinter sich – sie lassen auch eine Tür offen. Für neue Besuche.
Für Gespräche. Für Rückkehr. Für ein neues Miteinander.
Für Eltern ist das Gehen der Kinder ein tiefer Einschnitt – aber auch ein Neubeginn. Es braucht Mut, Trauer, Geduld – aber auch Hoffnung und Vertrauen.
Und vielleicht ist genau das der schönste Satz, den man sich in dieser Zeit sagen kann:
„Ich habe dich großgezogen – damit du gehen kannst. Und ich liebe dich – egal, wo du bist.“
In diesem Satz liegen Schmerz und Stolz zugleich. Und genau darin liegt die ganze Tiefe der Elternliebe.





