Kein Selbstwertgefühl bei Kindern: Wie Eltern das Verhalten beeinflussen, laut Forschung
Das Selbstwertgefühl ist wie ein Möbelstück von Ikea – viele Eltern wissen nicht, wie man es richtig aufbaut, und viele Kinder laufen Gefahr, dadurch Schaden zu nehmen. Wissenschaftler vermuten, dass der Schlüssel zur Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls darin liegt, früh anzusetzen – in der Kindheit, wenn sich das Gehirn noch entwickelt.
Das erklärt, warum geringes Selbstwertgefühl oft in Familien weitergegeben wird – Kinder mit niedrigem Selbstwertgefühl übernehmen es von beiden Elternteilen. Erwachsene mit einem schlechten Selbstwertgefühl neigen dazu, sich mehr auf sich selbst als auf ihre Kinder zu konzentrieren.
Das Problem ist, dass es viel einfacher ist, Selbstwertgefühl in der Kindheit zu stärken. Daher ist es sinnvoll, dort anzusetzen, um den Kreislauf zu durchbrechen, bevor man sich als Erwachsener der schwierigeren Aufgabe stellt, das eigene Selbstwertgefühl aufzubauen.
Eltern sollten zunächst ihre Angst ablegen, kleine Narzissten großzuziehen. „Es gibt kein ‚zu viel‘ an Selbstwertgefühl. Selbstwertgefühl entsteht aus dem Verständnis von sich selbst und der Welt“, erklärt die Psychiaterin Dr. Lea Lis. „Ein gesundes Selbstwertgefühl kann nicht übertrieben werden.“
Eine Studie der American Psychological Association (APA) ergab, dass Kinder bereits mit fünf Jahren beginnen, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln.
In diesem Alter formt das Gehirn Denkmuster und Verhaltensweisen, die als Schemata bezeichnet werden – „Informationspakete, die sich über lange Zeiträume im neuronalen Netzwerk des Gehirns ansammeln und gespeichert werden“, erklärt Lis.
Erfahrungen und Rückmeldungen prägen sowohl positive Schemata wie „Ich bin klug“, „Ich bin freundlich“ oder „Ich bin fähig“. Je nach Erfahrung und Feedback können sich jedoch auch negative Schemata bilden, die mit der Zeit schwerer zu korrigieren sind.
Kleine Kinder nehmen eine enorme Menge an Informationen aus ihrer Umgebung auf, während sich ihre neuronalen Netzwerke gerade erst entwickeln. Dadurch sind ihre Schemata zwar flexibler, aber auch empfindlicher. Die richtigen Botschaften können genauso einen großen Unterschied machen wie die falschen.
Selbstwertgefühl entsteht daher nicht einfach durch Lob, sondern durch die richtige Art des Lobens. Eltern sollten ihre Kinder nicht nur dafür loben, dass sie etwas gut machen, sondern auch dann, wenn sie sich bemühen und scheitern.
Während manche Eltern befürchten, dass zu viel Selbstwertgefühl zu Narzissmus führen könnte, ist dieser in Wirklichkeit eine psychologische Reaktion auf ein geringes Selbstwertgefühl.
Narzissten ziehen ihren Wert ausschließlich aus Erfolgen und brauchen ständiges Lob, um ihr großes, aber fragiles Ego zu schützen. Mit anderen Worten: Lob ist nicht das Problem – es ist eher ein Symptom oder manchmal sogar ein Sündenbock.
Ebenso basiert die Idee, widerstandsfähige und starke Kinder zu erziehen, die nicht von Lob abhängig sind, auf einem hohen Selbstwertgefühl. Diese Kinder wissen um ihren Wert, unabhängig davon, was passiert.
Der Psychotherapeut John Mathews weist darauf hin, dass ein treffenderer oder zumindest weniger belasteter Begriff für „Selbstwertgefühl“ der der „Selbstwirksamkeit“ ist – also der Glaube an die eigene Fähigkeit, Probleme zu lösen und Einfluss auf das eigene Leben zu haben.
Statt Kinder zu erziehen, die denken, dass sie großartig sind, geht es bei Selbstwirksamkeit darum, Kinder mit einem Sinn und einer Bestimmung im Leben zu fördern.
„Man kann einem Kind helfen, Selbstwirksamkeit aufzubauen, indem man es ermutigt, Probleme selbstständig zu lösen“, sagt Mathews. „Als Elternteil sollte man die Anstrengungen des Kindes loben, unabhängig vom Ergebnis.“
Mit anderen Worten: Unbedingtes positives Feedback, unabhängig vom Ausgang einer Situation, ist entscheidend. Doch viele Eltern von heute sind selbst nicht so erzogen worden, weshalb es ihnen schwerer fällt, diese Haltung zu übernehmen.
Laut einer APA-Studie von 2017 neigen Eltern mit geringem Selbstwertgefühl dazu, dieses an ihre Kinder weiterzugeben – selbst wenn sie ihren Kindern positives Feedback geben, da sie ein geringes Selbstwertgefühl vorleben.
Da die Schemata von Eltern bereits stärker ausgeprägt sind, ist es zudem schwieriger, ihr eigenes geringes Selbstwertgefühl zu korrigieren – schließlich haben sie ihr Leben lang die falschen Botschaften verinnerlicht.
Kinder nehmen das geringe Selbstwertgefühl ihrer Eltern auf und könnten schließlich selbst beginnen zu glauben, dass sie nicht gut genug sind.
Wie beim Aufsetzen der Sauerstoffmaske im Flugzeug müssen Eltern zuerst an ihrem eigenen geringen Selbstwertgefühl arbeiten, bevor sie sich um das ihrer Kinder kümmern können.
Für erschöpfte Eltern, die sich oft wie Versager fühlen, kann das eine enorme Herausforderung sein – doch es ist entscheidend, um Kinder großzuziehen, die sich selbst wertschätzen.
Dr. Lis empfiehlt als ersten Schritt die kognitive Verhaltenstherapie sowie das Buch Feeling Good: The New Mood Therapy von Richard Burns. Es erklärt, warum es so lange dauert, negative Selbstwahrnehmungen umzukehren – aber dass es möglich und mehr als lohnenswert ist.
„Kinder lernen, die Welt durch die Augen ihrer Bezugspersonen zu sehen“, warnt Lis. „Wenn Eltern sich selbst schlechtmachen, ängstlich sind oder anderen misstrauen, geben sie diese Eigenschaften wahrscheinlich an ihre Kinder weiter.“
Selbstwertgefühl mag für Eltern schwer aufzubauen sein – doch nur weil du ohne es aufgewachsen bist, bedeutet das nicht, dass dein Kind auch ohne es aufwachsen muss.