Wenn Eltern nur das Lieblingskind achten und das zweite Kind leidet
Eltern lieben ihre Kinder – zumindest sollte das die Grundlage jeder Familie sein. Doch in manchen Familien herrscht ein unausgesprochenes Ungleichgewicht. Ein Kind scheint immer im Mittelpunkt zu stehen, während das andere sich in den Schatten gedrängt fühlt.
Dieses Phänomen ist kein Randthema, sondern eine stille Realität, die viele Geschwister prägt. Das „Lieblingskind“ bekommt Aufmerksamkeit, Anerkennung und Wärme, während das „zweite Kind“ lernen muss, mit Zurückweisung, innerem Schmerz und dem Gefühl des Nicht-gesehen-Werdens zu leben.
Warum entsteht ein Lieblingskind?
Die Frage, warum Eltern ein Kind bevorzugen, ist komplex. Liegt es am Temperament, an Ähnlichkeiten mit den Eltern oder an unausgesprochenen Erwartungen?
Manche Eltern fühlen sich von einem Kind verstanden, gespiegelt oder bestätigt, während das andere ihnen unbewusst zu fremd erscheint. Manchmal spielt auch die Geburtsreihenfolge eine Rolle. Das Erstgeborene wird als „besonders“ angesehen, während das Zweite in dessen Schatten aufwächst.
Doch egal, wo die Gründe liegen – die Folgen für das Kind, das weniger Beachtung erhält, sind tiefgreifend. Ein Kind, das immer wieder spürt, dass es nicht mithalten kann oder nicht genügt, entwickelt nicht nur Unsicherheit, sondern auch eine tiefe Verletzung, die oft bis ins Erwachsenenalter reicht.
Was passiert im Herzen des übersehenen Kindes?
Wie fühlt es sich an, wenn die eigenen Eltern, die Menschen, zu denen man bedingungslos aufschaut, immer nur das Geschwisterkind loben? Wenn man selbst zwar anwesend ist, aber kaum wahrgenommen wird?
Das Herz eines Kindes versteht keine Erklärungen über Stress, Überforderung oder persönliche Vorlieben. Es spürt nur: „Ich bin weniger wert.“ Dieses Gefühl frisst sich still in die Seele. Oft beginnt das übersehene Kind, sich übermäßig anzustrengen, um doch noch gesehen zu werden.
Oder es zieht sich zurück, um den Schmerz zu vermeiden. Manche Kinder rebellieren, andere verstummen – aber der Kern bleibt derselbe: Sie kämpfen um Liebe, die eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Der Alltag zwischen Ungleichgewicht und stiller Sehnsucht
Im Familienalltag zeigt sich die Bevorzugung in vielen kleinen Momenten. Das Lieblingskind bekommt ein längeres Lächeln, mehr Lob, mehr Geduld.
Es darf Fehler machen, ohne dass sie schwer wiegen. Das zweite Kind hingegen erlebt, dass seine Erfolge kaum Beachtung finden oder schnell relativiert werden.
Die Sehnsucht nach Anerkennung wächst. Ein gemaltes Bild, eine gute Note, ein kleiner Erfolg – all das wird mit Hoffnung präsentiert.
Doch wenn der Blick der Eltern nur flüchtig bleibt, brennt sich die Enttäuschung tief ein. Mit der Zeit verliert das Kind den Mut, überhaupt noch etwas zeigen zu wollen.
Welche Rolle spielt das Lieblingskind selbst?
Auch das Kind, das im Mittelpunkt steht, bleibt nicht unberührt. Auf den ersten Blick scheint es im Vorteil: Es wird geliebt, bewundert und umsorgt.
Doch auch das Lieblingskind steht unter Druck. Es spürt die unausgesprochenen Erwartungen und die Verantwortung, die mit der Rolle einhergeht.
Oft entwickelt es Schuldgefühle gegenüber dem Geschwisterkind oder ein verzerrtes Selbstbild, weil es Zuwendung nicht als selbstverständlich, sondern als an Bedingungen geknüpft erlebt.
So entsteht eine Dynamik, die beiden Kindern schadet: Das eine leidet an Mangel, das andere an Last.
Kann ein Kind jemals genug sein?
Die entscheidende Frage, die sich das übersehene Kind stellt, lautet: „Werde ich jemals genug sein?“ Diese Frage bleibt nicht auf die Kindheit beschränkt.
Sie wandert ins Erwachsenenleben, prägt Freundschaften, Partnerschaften und das Selbstwertgefühl. Wer in jungen Jahren lernt, dass Anerkennung nicht selbstverständlich ist, sucht sie später umso stärker – oft an Orten, die nicht heilsam sind.
Viele Erwachsene berichten rückblickend, dass sie jahrelang versucht haben, „besser“ zu sein, „mehr“ zu leisten oder sich anzupassen, nur um endlich gesehen zu werden. Doch die Wunde aus der Kindheit heilt dadurch nicht.
Wie lässt sich das Schweigen durchbrechen?
Kann ein Kind, das lange übersehen wurde, den eigenen Wert wiederfinden? Die Antwort ist ja – doch der Weg ist nicht einfach.
Heilung beginnt mit dem Bewusstsein, dass der Mangel nicht die Schuld des Kindes war. Es war nicht „falsch“, nicht „zu wenig“, nicht „schwächer“. Es war einfach Opfer einer Dynamik, die außerhalb seiner Kontrolle lag.
Manchmal braucht es Jahre, um diese Erkenntnis zuzulassen. Unterstützung durch Therapie, durch verständnisvolle Partner oder Freunde kann helfen, das eigene Selbstbild neu zu formen.
Wichtig ist, dass das Kind – oder später der Erwachsene – lernt: „Meine Würde und mein Wert hängen nicht davon ab, ob andere mich bevorzugen oder nicht.“
Was bedeutet das für die Eltern?
Eltern, die merken, dass sie ein Kind unbewusst bevorzugen, stehen vor einer großen Herausforderung.
Es verlangt Mut, ehrlich in den Spiegel zu schauen und sich einzugestehen, dass man Ungleichgewicht geschaffen hat. Doch dieser Schritt ist entscheidend, um Heilung zu ermöglichen.
Kinder brauchen nicht perfekte Eltern, aber sie brauchen das Gefühl, dass ihre Liebe gerecht verteilt ist. Ein Kind sollte niemals das Gefühl haben, weniger wert zu sein.
Eltern können lernen, ihre Aufmerksamkeit bewusster zu lenken, die besonderen Stärken jedes Kindes zu würdigen und ihre eigenen inneren Muster zu hinterfragen.
Der lange Schatten ins Erwachsenenleben
Viele Geschwister, die in einer solchen Konstellation aufwachsen, tragen den Schmerz ein Leben lang mit sich.
Sie vergleichen sich unbewusst, suchen nach Anerkennung oder vermeiden Nähe aus Angst vor erneuter Zurückweisung.
Doch gleichzeitig gibt es Menschen, die aus dieser Erfahrung eine besondere Stärke entwickeln. Sie wissen, wie es sich anfühlt, übersehen zu werden, und entwickeln ein tiefes Mitgefühl für andere.
Manche finden gerade darin ihren Weg, etwas Eigenes aufzubauen, das nicht im Schatten eines anderen steht.





